Album Review "The Long Goodbye"
Weltwoche September 2021
Peter Rüedi, Weltwoche September 2021
Das Paradies der Erinnerung
Zwischen Bescheidenheit und Koketterie ist zuweilen schwer zu unterscheiden. Das eine ist ein Tugend, das andere eine schwer erträgliche Untugend, gegen die nicht selten ein Zitat von Goethe ins Feld geführt wird: «Nur die Lumpe sind bescheiden, Brave freuen sich der Tat». Was dabei vergessen geht: die Zeile stammt aus einem Trinklied («Rechenschaft»), ist also ein Stück Rollenpoesie und keineswegs des Dichters ungebrochenes Bekenntnis, dem es allerdings an unangefochtenem Selbstwertbewusstsein nicht mangelte. Wie auch immer: Bescheidenheit kann durchaus eine Tugend sein, manchmal auch eine List, wie bei Robert Walser, diesem Meister der Selbstverkleinerung, oder zuweilen auch beim hinlänglich bekannten Umgang der Schweizer mit dem Diminutiv. In einem schönen Text zu einer besonders schönen CD des Gitarristen Dave Gisler spricht der Saxophonist Nat Su von der Tugend der Gelassenheit. Er meint damit auch die Bescheidenheit, to sing the song: «Ist der Song eine Ballade» (und Gislers Ambum mit dem sprechenden Titel «The Long Goodbye» enthält ausschliesslich Balladen, sieben an der Zahl) «ist die Unaufgeregtheit geradezu gefragt (...) – wohin mit der Aufgeregtheit, dem Drama, dem Spektakel, welches heute erwartet, von Musikern geradezu gefordert wird?». Na ja, Ausnahmen gibt es, Peter Schärlis jüngstes Opus (s. Weltwoche 36/21) ist eine solche, und auf Sus rhetorische Frage gibt’s auch eine Antwort: im Innenraum der Intimität wird aus dem Spektakel ein knisterndes Interplay, eine Steigerung der Spannung durch Understatement im magischen Sog des Pianissimo. Darin sind der geborene Urner Gisler und seine Partner Raphael Walser am Bass und Jonas Ruther am Schlagzeug Meister. Sie beherrschen die schwierige Kunst, die mal mehr, mal weniger bekannten Standards (von Ecksteins «I Want To Talk About You» über Ellingtons «I Didn’t Know About You», Miles Davis «Blue In Green», Gershwins «I Loves You Porgy» und einige mehr bis zu Jerome Kerns «I’m Old Fashioned») gleichzeitig zu verrätseln und zu beschwören. So entsteht im fein gewobenen Zusammenspiel ein vielfarbig flirrendes Dazwischen: eine dritte Zeitzone zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Sphäre der Erinnerung eben, nach Jean Paul «das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können». Erinnerung als Verinnerlichung. Leuchtende Poesie.
Dave Gisler( Raphael Walser/Jonas Ruther: The Long Goodbye. Anuklabel Klactovee Edition Klacto5